Genealogie: Was ist das?

 

Es ist schon eine geraume Zeit her, dass ich einmal unvermutet vor diese Frage gestellt wurde. Ich konnte damals allerdings noch nicht ahnen, dass es sich hierbei um meine zukünftige Freizeitbeschäftigung handeln wird.

Um es vorwegzunehmen: Genealogie ist keineswegs nur so eine Freizeitbeschäftigung. Es handelt sich vielmehr um eine historische Hilfswissenschaft und ist in diesem Sinne Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, vor allem der Kulturgeschichte, der Volkskunde und der Sprachwissenschaft.

 

Im Lexikon und dem Duden wird Genealogie unter Hinweis auf die Wortentstehung

(„genus“ kommt aus dem Lateinischen und heißt soviel wie Geschlecht oder Abstammung

und

logos“ leitet sich aus dem Altgriechischen ab und bedeutet Lehre oder Kunde) als Familienkunde, Geschlechterkunde oder Stammbaumforschung definiert.

 

Und Genealogie muss selbstverständlich von laienhafter Familienforschung unterschieden werden, weil sie weit darüber hinaus geht und sich als Teildisziplin der Wissenschaft nicht privaten Interessen, sondern übergeordneten historischen und politischen Zusammenhängen widmet.

 

Genealogie und Familienforschung bedeuten vor allem aber: Geschichte   u n d   Geschichten.

Vor allem sind es die Geschichten, die die Genealogie (um bei diesem Begriff zu bleiben) zu erzählen weiß. Es handelt sich bei ihnen auch weniger um Lebensbeschreibungen der Mächtigen dieser Welt, wie wir sie aus den Geschichtsbüchern kennen; es sind vielmehr Erlebnisberichte unserer eigenen Vorfahren.

Scheinbar erwachen diese Vorfahren dabei zum Leben und schildern uns von ihrem Leben, aber auch von ihren leidvollen Erfahrungen.

Und wer dabei zuzuhören vermag, erfährt eine ganze Menge über sich selbst.

 

Vielleicht ist es gerade die Suche nach dem eigenen „Ich“, nach der eigenen Identität, was immer mehr junge Menschen veranlasst, sich mit der eigenen Familie zu beschäftigen. In den USA führte ein Fernsehfilm über die „roots“ (=Wurzeln, so auch der Titel des Films nach einem Roman von Alex Haley) zu einer wahren Volksbewegung, und deutsche Archive sind derzeit kaum noch in der Lage, die Flut der Anfragen aus Übersee zu beantworten.

Alte, scheinbar vergessene Werte, wie Heimat, Herkunft und Tradition der Vorfahren, sind es plötzlich wieder wert, entdeckt zu werden.

 

 

Die Geschichte der Genealogie

 

Doch wenden wir uns zunächst einmal der eigenen Geschichte der Genealogie zu, die als Darstellungsversuch familienkundlicher Zusammenhänge vermutlich so alt ist wie die Menschheit selbst.

Nachweisbar wird sie erst durch Überlieferung, und hier ist es die Bibel, die uns die ältesten Aufzeichnungen dieser Art überliefert: 1. Buch Moses und im Neuen Testament vor allem im Matthäus-Evangelium, Vers 116, mit dem sog. Stammbaum Jesus.

Als genealogisch-historisch sichere Quelle können diese Mitteilungen allerdings nicht verstanden werden.

Dieser Anforderung wird erst die um 550 n. Chr. entstandene „Gotengeschichte“ von Jordanus eher gerecht.

Eine systematische genealogische Forschung setzte ca. 1000 Jahre später ein, als einzelne Herrscherhäuser damit begannen, Gelehrte mit der Erstellung von Familienchroniken und Ahnentafeln zu beauftragen. Sie taten damit das, was heute bei jedem Firmenjubiläum üblich ist.

So entstand auch um die Wende des 15./16. Jahrhunderts auf Weisung Kaiser Maximilians von dem Gelehrten Ladislaus Suntheim eine Chronik der Häuser Habsburg und Babenburg. In Suntheim können wir deshalb auch einen der ersten Berufsgenealogen sehen.

In der Folgezeit blühte die Genealogie als historische Hilfswissenschaft der Geschichte auf und reifte zur Universitätsgenealogie heran.

Hier waren es neben den Historikern bezeichnenderweise vor allem die Juristen, die genealogische Themen in das Lehrprogramm ihrer Fächer aufnahmen.

 

Einen schweren Rückschlag erlitt die Genealogie im sog. Dritten Reich, wovon sie sich bei uns bis heute noch nicht wieder erholt hat.

Als Reichssippenforschung umfunktioniert musste sich ein Großteil der deutschen Bevölkerung unfreiwillig mit Familienforschung befassen und eine „arische Abstammung“, was immer darunter zu verstehen war, nachweisen.

Dass dies vielen Deutschen nicht gelang und sie dem Rassenwahn der nationalsozialistischen Machthabern zum Opfer fielen, ist bekannt.

Unbewusst dauert die Abneigung gegen familienkundliche Nachforschungen teilweise auch heute noch an, weshalb sich die Bewegung in Amerika beispielsweise unbeschwerter entwickeln konnte.

Es ist schwer, zumindest bei der älteren Generation, diese Vorbehalte zu überwinden. Ich bedauere aber jeden, der Genealogie aus diesen Gründen nicht als schöne Erfahrung erleben kann.

 

Genealogie als Hobby

 

Genealogie als Freizeitbeschäftigung gehört zu der großen Gruppe der Sammelhobbies, um nicht Sammelleidenschaft zu sagen. Auch der Familienforscher ist Sammler. Er sammelt aber nicht nur Vorfahren, sondern vielmehr die Lebensgeschichten seiner Vorfahren; er erforscht und entdeckt Geschichten, in denen immer ein Vorfahr oder eine Vorfahrin Hauptdarsteller oder Hauptdarstellerin ist. Wie ein Briefmarkensammler sich zum Beispiel über ein seltenes Exemplar freut, begeistert sich auch der Familienforscher über eine Neuentdeckung, also einen Ahn oder Urahn, den er nach langem Stöbern und Suchen in Registern und Archiven endlich gefunden hat. Und nun gilt es noch mehr über ihn zu erfahren. Wo und wie er gelebt hat, ob er als Greis nach einem erfüllten Leben gestorben ist oder ob er auf einem Schlachtfelde eines Krieges blieb.

Frauen starben oft ohne erfülltes Leben, mitunter in jungen Jahren bei der Geburt eines Kindes an dem früher so gefürchteten Kindbettfieber.

 

Nicht wenige Hobby-Genealogen erleben dann früher oder später auch, was man eine Sternstunde nennt: Sie entdecken entweder „Karl den Großen“ als ihren Vorfahr oder aber den berüchtigten „Schinderhannes“. Einem echten Familienforscher sind sicherlich beide gleichermaßen willkommen.

 

„Karl der Große“ als Proband

 

Doch an dieser Stelle möchte ich gerade einmal den Erstgenannten, also „Karl den Großen“, genealogisch vorzustellen versuchen, den wir doch alle so gut aus unseren Geschichtsbüchern kennen, oder?

 

„Karl von Franken“ wurde (nach allem, was man heute weiß), in den ersten Tagen des April 742 vermutlich in der Kaiserpfalz Ingelheim geboren.

Er war das erste Kind seiner Eltern, der Eheleute

 

Pippin von Franken, genannt Pippin der Kurze,

 

und seiner Ehefrau

 

Bertrade geb. von Laon (die jüngere).

 

Karl konnte seine Vorfahren väterlicherseits über seinen Großvater, Karl Martell von Franken, bis zu dessen Urgroßvater, Arnulf von Franken, dem Bischof von Metz (612), zurückverfolgen.

Nach Karl wurden seine fünf Geschwister geboren, und zwar

  Karlmann, Pippin, Gisela, Rotheid und Adelheid.

Im Alter von 26 Jahren trat Karl am 07. Oktober 768 die Nachfolge seines Vaters an, der am 24. September des gleichen Jahres in St. Denis als König der Franken gestorben war.

Auf Drängen seiner Mutter heiratete Karl kurz nach dem Tode seines Vaters Desiderate, die Tochter des Langobardenkönigs.

Dabei spielte es keine Rolle, dass Karl schon mit Himiltrud eine sog. Friedelehe führte, und dieser Ehe bereits als Sohn Pippin (der Buckelige genannt) entstammte.

Doch nach einem Ehejahr mit Desiderate entschied sich Karl gegen seine Ehefrau und verstieß Desiderate.

 

Am Ende seines Lebens blickte Karl auf insgesamt fünf eheliche und fünf weitere Verbindungen zurück und war Vater von insgesamt 17 Kindern, davon immerhin 13 eheliche.

Allein 9 Kinder schenkte ihm seine 3. Frau, Hildegardis vom Vinzgau.

Bei der Hochzeit im Jahre 771 in Aachen war die Braut erst 13 Jahre alt und starb nach der Geburt ihres neunten Kindes im Alter von 25 Jahren am 30. April 783.

Noch im gleichen Jahr verehelichte sich Karl wieder, und zwar mit Fastrada, einer Sächsin.

 

Keine seiner Frauen entstammte dem fränkischen Adel. Karl überlebte alle seine viel jüngeren Frauen. Dies hing sicherlich auch mit den Belastungen dieser Frauen zusammen durch ihr ständiges Reiseleben und den sich rasch wiederholenden Geburten.

So gebar Hildegardis das Kind „Ludwig“ (später der Fromme genannt) am Fuße der Pyrenäen, und eine Tochter kam 782 auf der Reise in Italien zur Welt.

Auf der Reise sind die meisten auch gestorben: Hildegardis kurz nach Ostern in der Winterpfalz Diedenhofen, Fastrada in Frankfurt und seine fünfte Ehefrau, Luitgard, in Tours.

Karl selbst starb in seiner Kaiserpfalz Aachen, wo er am 28 Januar 814 beigesetzt wurde.

 

Die Namenkunde

 

Doch zum Schluss noch eine Bemerkung zu einer mit der Genealogie artverwandten Hilfswissenschaft: der Namenkunde.

Der Namen, und vor allem der Familiennamen, ist in der Genealogie der „Rote Faden“. Er ist das eigentliche Suchkriterium, obwohl er noch auf keine so lange Geschichte zurückblickt wie der Vornamen. Denn im Unterschied zum Vornamen gibt es den bürgerlichen Familiennamen erst seit der vorletzten Jahrtausendwende.  Der Vornamen dürfte so alt wie die Menschheit selbst sein.

Der Familienname verdankt seine Entstehung dem  Anwachsen der Bevölkerung in den Städten und Dörfern und der damit verbundenen Notwendigkeit, zum Vornamen weitere Unterscheidungskriterien führen zu müssen.

So entstanden Zweitnamen, unsere heutigen Familiennamen. Nun müssen wir bedenken, dass damals der Großteil der Bevölkerung weder schreiben noch lesen konnte, was zur Vielfalt der Schreibweise unserer Familiennamen beitrug.

 

Dies entmutigt aber selten einen Familienforscher, sondern führt zur Bereicherung seines Erfahrungsschatzes. Ist dies nicht letztlich der Grund für die Beschäftigung mit der Geschichte unserer Vorfahren?

So unbestreitbar wie ihr Freizeitwert ist auch ihr Bildungswert.

 

 

Benutzte Literatur:

Peter Bahn - Familienforschung (Falken-Verlag)

Kurt Kusenberg - Karl der Große (Rowohlts-Verlag)

Deutsches Familienarchiv, Band 14, 1960 (Degener Verlag, Neustadt/Aisch)

 

 

Autor: Wolfried Göbler